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Literatur

Morgen gehe ich nach Paris

Sie sahen ihn schon von Weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Wie er da die Treppe runterfiel, nein, zunächst eher strauchelte, stolperte. Wie er versuchte, ohne Zuhilfenahme seiner Hände, das Gleichgewicht wiederzufinden. Wie er ein wenig am Handlauf, der aufgrund seines Alters nur noch an goldene Zeiten erinnerte, entlangrutschte, bevor sich ihm sein Bein oder Fuß wieder in den geordneten Gang stellte. Wie der ausgetretene Flor seinen Sohlen den Halt verweigerte und nach und nach aus Straucheln und Stolpern ein Fallen zu werden drohte. Seine Hände klammerten sich die ganze Zeit fest. Versuchten gerade zu halten, was kaum zu halten war. Versuchten den Anschein zu wahren, das Protokoll nicht zu verletzen, während sein ganzer Rest sich dagegen zu wehren schien.
Hätte er nur die letzten drei Stufen irgendwie geschafft, wäre auf sicherem Boden angekommen und ihre Freunde und Familie, die am Treppenfuß gespannt warteten, hätten ihm unter die Arme greifen können, ihn stützen und aufrichten können, ihm in die Spur helfen können. Aber er fiel. Und mit ihm die Torte, vierstöckig einst, jetzt nur noch ein Fladen aus Creme, Baiser und Tortenboden.
Sie sahen ihn an. Dann sahen sie sich an. Und in diesem einen Moment waren sie seit langem wieder ehrlich miteinander verbunden und ihnen war klar, ohne dass es einer von ihnen hätte aussprechen können, dass ihre Hochzeit, dass ihre Beziehung, dass sie eine Farce waren.

Ihr Hochzeitsvideo sahen sich beide immer noch gerne an, sie jetzt in Hamburg, verheiratet, drei Kinder, er in Paris, Modebranche. Eine Choreografie des Scheiterns hatten sie es augenzwinkernd genannt. Und heute dachte sie zum ersten Mal daran, morgen nach Paris gehen zu wollen.